Die Auswahl der Häftlinge

Um Arbeitskräfte aus den Konzentrationslagern anzufordern, mussten sich die Firmen an die Amtsgruppe DII des Wirtschaftverwaltungshauptamtes wenden. Diese prüfte die Unterkünfte und Sicherheitssituation am Lagerstandort und wies, im Falle einer positiven Entscheidung, das zuständige Konzentrationslager an, Häftlinge zur Verfügung zu stellen. Firmenvertreter betraten dann in der Regel in Begleitung des Lagerkommandanten oder eines Beauftragten das Lager, um die für das Unternehmen am besten geeigneten Arbeitskräfte auszuwählen.1 In vielen Konzentrationslagern gab es neben Auswahlverfahren auch Eignungsprüfungen.2 Im Falle Rochlitz sind Eignungsprüfungen nicht dokumentiert.

Wer zu ungeschickt oder schwach für die zu erwartende Arbeit war oder so wirkte, wurde von den Firmenvertretern in der Regel nicht ausgewählt3

Füllberg-Stolberg und Pfingsten beschreiben die Auswahlkriterien folgendermaßen:

 

„Fachkenntnisse spielten bei der Auswahl der weiblichen Arbeitskräfte keine so bedeutende Rolle, wie das über die Konzentrationslager mit männlichen Häftlingen überliefert wird. Bei den früh und noch gezielt eingerichteten Außenlagern für Frauen überwiegt eindeutig die Fließbandfertigung und, zumindest der Intention nach, eine frauenspezifische Arbeit in der Feinmechanik oder ähnlichen Branchen, die von allen weiblichen Gefangenen bereits nach kurzer Anlernzeit geleistet werden konnte.“4

 

Die in Rochlitz inhaftierte ungarische Jüdin Lea Tanzmann beschreibt in ihrer Vernehmung, wie sie und andere Frauen durch einen Meister der Mechanik GmbH in Bergen-Belsen ausgewählt wurden:

 

„Nach einer Zeitlang, die ich nicht genau angeben kann, etwa Herbst 1944 kam nach Bergen-Belsen ein Meister von einer Fabrik und wählte Arbeiterinnen für seine Fabrik aus. Er nahm junge und nicht schlecht aussehende Frauen, wobei er auch auf Intelligenz der Ausgewählten aufmerksam war. Er beachtete die Familienangehörigen – riss sie nicht auseinander. Meine Schwester Hedwa war etwa 15 Jahre alt, klein und schwach. Er stellte sie weg, als wir ihm aber erklärten, dass sie unsere Schwester ist - nahm er sie mit. Es waren dort auch fünf Schwestern aus Marmarosz Siget. Er nahm 4 und versprach, dass er später die 5-te holen wird. Er hat das Versprechen gehalten.“5

Eine andere Häftlingsfrau beschreibt, dass sie sich bei der durch einen Zivilisten durchgeführten Auswahl für die Mechanik GmbH in Auschwitz, nach dem Morgenappell nackt der Reihe nach aufstellen mussten und nach Wunden und Ausschlägen untersucht wurden.6

„Sie schauten in die Augen, wer gute Augen hat.“ beschreibt Kochmann das Auswahlverfahren in Bergen-Belsen.7

 

 

1Vgl.: Obenaus, Herbert: Die Außenkommandos des Konzentrationslagers Neuengame in Hannover. In: Kaienburg, Hermann: Konzentrationslager und deutsche Wirtschaft 1939-1945, Opladen 1996.

2Fröbe, Rainer: KZ-Häftlinge als Reserve qualifizierter Arbeitskraft. Eine späte Entdeckung der deutschen Industrie und ihre Folgen. In: Dieckmann, Christoph; Orth, Karin: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur. Band II, S.653

3Fröbe, Rainer: KZ-Häftlinge als Reserve qualifizierter Arbeitskraft. Eine späte Entdeckung der deutschen Industrie und ihre Folgen. In: Dieckmann, Christoph; Orth, Karin: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur. Band II, S.652

4Füllberg-Stolberg, Claus; Pfingsten, Gabriele: Frauen in Konzentrationslagern. in: Dieckmann, Christoph; Orth, Karin: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur. Band II, S.917

5BA Ludwigsburg B 162/18257 , Blatt 24, Vernehmung der ehemaligen Häftlingsfrau Lea Tanzmann durch israelische Polizei in Beit Dagan, Israel vom 23.8.1968

6Vgl.: Seubert, Josef: Von Auschwitz nach Calw. Jüdische Frauen im Dienst der totalen Kriegsführung, Würzburg u. Wien 1989, S.53

7Kochmann, Renee Renia, videografiertes Interview durch das University of Southern California Shoah Foundation Institute for Visual History and Education, N.Y., USA